„Gleichberechtigung lässt sich nur gemeinsam erreichen“
Jan Ising leitet bei der Unternehmensberatung Accenture die firmeneigene Initiative zur Förderung weiblicher Führungskräfte. Im Gespräch erklärt der Accenture-Partner, warum diese Rolle mit einem Mann besetzt wurde – und was das mit seinen Töchtern zu tun hat.
Herr Ising – Sie sind Managing Director und Partner bei Accenture. Ihr Themengebiet als Berater ist eigentlich Life Science. Wie sind Sie zu dem Thema Frauenkarrieren und Diversity gekommen?
Ich habe vor vier Jahren einen internen Blog geschrieben. Ich bin dort der Frage nachgegangen, „wann Mädchen die Vorherrschaft an die Männer abgeben und warum“. Auf das Thema bin ich durch meine beiden Töchter gestoßen – damals sieben und neun Jahre alt. Ich habe beobachtet, dass sie gegenüber ihren männlichen Freunden so viel entwickelter auftreten und viel vernünftiger waren. Aber trotzdem sehen wir bis heute in unserem eigenen beruflichen Umfeld nur wenige Frauen in Führungspositionen. Woran liegt das? Irgendwann scheint der Punkt zu kommen, an dem sich Mädchen zurückziehen und den Jungs das Feld überlassen. Ich bin auf diesen Text dann von unserer HR-Chefin angesprochen worden. Sie hat mich gefragt, ob ich die Woman Initiative unterstützen würde. Anfangs war ich tatsächlich über die Frage etwas verwundert und vielleicht auch überfordert. Aber ich stehe sehr hinter dem Ziel von Accenture, mehr weibliche Führungskräfte zu gewinnen. Und ich möchte, dass wir über das Thema Gender nicht mehr diskutieren müssen, wenn meine Töchter irgendwann ins Arbeitsleben einsteigen.
Was genau macht denn ein Women Initiative Lead bei Accenture?
Die Accenture Women Initiative hat eine klare Mission: Den Erfolg von Accenture mit der Kraft der Gleichstellung weiter auszubauen. Wir haben uns ein ehrgeiziges Ziel gesetzt. Bis 2025 wollen wir völlige Geschlechterparität erreichen. Denn wir sind davon überzeugt, dass eine Arbeitskultur der Gleichberechtigung der Schlüssel für den Unternehmenserfolg ist. Letztlich kann ein Unternehmen nur durch Vielfalt wachsen und innovativ sein. Dazu gehört, die Chancen für weibliche Talente zu stärken. Mit der Woman Initiative wollen wir Frauen unterstützen, ihre individuellen Potenziale zu erkennen und zu entwickeln – damit sie sowohl ihre beruflichen wie privaten Ziele erreichen. Mit Hilfe unserer internen wie externen Netzwerke bauen wir dafür wertvolle Verbindungen auf. Mit der Erfahrung unserer Partner streben wir nach strategischer und operativer Exzellenz. Es geht darum, mit unseren Aktivitäten Frauen zu entwickeln und zu halten.
War es eine bewusste Entscheidung, diese Rolle gerade nicht mit einer Frau zu besetzen?
Ja. Die Initiative gibt es bei Accenture schon länger als 20 Jahre. Trotzdem waren wir gerade in den deutschsprachigen Ländern noch immer sehr männlich geprägt. Deshalb wollten wir etwas ändern. Außerdem entsteht fälschlicherweise schnell der Eindruck einer „Selbsthilfegruppe“, wenn ausschließlich Frauen für ihre eigenen Belange als Sprachrohr oder vermeintlich gar als Bittstellerinnen auftreten. Genau das soll die Woman Initiative ja nicht sein. Wir sehen sie als strategisches Instrument für unsere Workforce-Entwicklung. Diversity und Gleichberechtigung lässt sich nur gemeinsam erreichen. Erst kürzlich haben wir deshalb entschieden, die Woman Initiative ab 2021 von einem gender-dualen Team führen zu lassen.
Mit welchen Maßnahmen wollen Sie das Ziel Geschlechterparität bis 2025 erreichen?
Wir haben das Ziel ausgerufen, bis 2025 eine ausgewogene weiblich-männliche Mitarbeiterschaft zu erreichen. Außerdem wollen wir bis dahin ein Viertel unserer Managing Director-Stellen mit Frauen besetzen. Um das zu erreichen, ist es zunächst einmal wichtig, sich klare und vor allem messbare Ziele zu setzen und diese regelmäßig nachzuhalten. Deshalb engagieren wir uns zum Beispiel beim Frauen Karriere Index – nicht, weil wir Auszeichnungen anstreben, sondern weil er uns hilft, unsere eigenen Ergebnisse zu überprüfen. Ein wichtiger Faktor ist für uns, ein Umfeld zu schaffen, in dem sich unsere Talente in allen Lebenssituationen weiterentwickeln können – Männer wie Frauen. Dazu gehören flexible Arbeitszeiten, die Möglichkeit zu Teilzeit oder auch zur Arbeit im Home Office. Außerdem ist es ein Netzwerkthema. Unser weltweites Frauennetzwerk bringt Kolleginnen aus allen Unternehmensbereichen zusammen, damit sie sich vernetzen und austauschen können. Sie profitieren vom Coaching durch erfahrene Kolleginnen und der Vorbildfunktion von Role Models. Zu unseren Maßnahmen gehören außerdem Trainings, in denen sich unsere Führungskräfte mit so genannten „Unconcious Bias“ auseinandersetzen. Ich glaube, wir werden nie völlig vorurteilsfrei sein. Das hat mit unseren Hintergründen und unserer Erziehung zu tun. Aber wir müssen einen Zustand von gegenseitiger Akzeptanz und vor allem Toleranz erreichen. Und schließlich haben wir mehrere spezielle Female Mentoring-Programme gestartet, unter anderem auch ein spezielles Programm für Studentinnen.
Die deutschen Unternehmen hinken beim Thema Diversität und Frauen in Führungspositionen im Vergleich zu anderen Industrienationen hinterher. Hier ist der Frauenanteil im Top-Management deutlich niedriger, ebenso die Zahl der internationalen Manager. Woran liegt das?
Zunächst gibt es ja überhaupt keinen Grund, warum Frauen und Männer nicht in allen wirtschaftlichen Bereichen gleich stark vertreten sein sollten. Das ist ja eigentlich eine Frage der Statistik und der Mathematik. Trotzdem ist das vor allem in einigen Branchen so. Das hat meiner Meinung nach vor allem damit zu tun, dass in Deutschland die strukturellen Rahmenbedingungen nicht stimmen. Andere Länder sind uns hier auch kulturell weit voraus. Wir sind bei den Themen Kinderbetreuung und Ganztagsschulen weder auf einem globalen noch auf europäischem Level. Hinzu kommt noch ein fatales gesellschaftliches Verständnis, nach dem beruflich erfolgreiche Frauen kein Privatleben haben können. Wir müssen einiges in den Köpfen ändern. Dabei helfen auch Quoten. Uns bei Accenture helfen sie, den Fokus zu halten. Letztlich brauchen wir die richtigen Unterstützungsprogramme in Unternehmen sowie Netzwerke über die Unternehmen hinaus.
In welchen Branchen ist das Problem besonders groß?
In den so genannten MINT-nahen Berufen. Wir bei Accenture verstehen uns als Tech-Unternehmen und stehen hier vor derselben Herausforderung wie die übrige Branche. In der gesamten Ausbildung in Deutschland wird zu wenig technologische Kompetenz gefördert. Wir erleben in MINT- und Technologie-Branchen und bei den Startups seit Jahren einen Brain-Drain. Begabte gehen ins Ausland, weil sie dort bessere Chancen haben. Das ist ein Problem, das weit über das Thema Frauenkarrieren und Diversity hinausgeht. Aber bei den jungen Frauen ist es besonders gravierend.
Accenture hat sich in den letzten Jahren in zahlreichen Studien mit der Frage beschäftigt, unter welchen Umständen Chancengleichheit und mehr Diversität gelingen. Was sind Ihre wichtigsten Erkenntnisse?
Über die drei wichtigsten Erkenntnisse haben wir im Prinzip bereits gesprochen. Es kommt zunächst auf eine progressive Unternehmensführung an. Frauenförderung sollte genauso wie andere Dimensionen von Diversität ein fester Bestandteil der Management-Agenda sein. Zweitens braucht man diskriminierungsfreie Strukturen. Zum Beispiel haben wir festgestellt, dass Frauennetzwerke, welche für alle Geschlechter offen sind, effizienter und erfolgreicher sind. Und drittens geht es um ein befähigendes Umfeld, in dem Menschen kreativ und innovativ sein können. Dazu gehören solche Dinge wie Work-Life-Balance, flexible Arbeitszeiten und die Möglichkeit zum virtuellen Arbeiten.
Gibt es einen Zusammenhang zwischen Diversity und Digitalisierung?
Digitale Kompetenz und technologisches Know-how sind zwei wesentliche Katalysatoren, die nachweislich Frauenkarrieren fördern. Das haben wir bereits 2016 in einer Studie festgestellt Dieses Ergebnis lässt sich auch auf alle anderen Diversitäts-Dimensionen übertragen. Ein verbesserter Zugang zu Technologien stellt für Unternehmen deshalb eine enorme Chance dar. Sie kann der Grundstein für eine integrative Arbeitskultur sein, die es zum Beispiel auch Menschen mit Behinderung ermöglicht, erfolgreich zu sein.
Sie sagen: Es gibt einen klaren Zusammenhang zwischen Diversität und Erfolg. Inwiefern schlägt sich diese Erkenntnis in Ihrer Beratungstätigkeit nieder?
Eine Kultur der Gleichstellung ist einer der wichtigsten Faktoren für Innovation. In Deutschland ist die Innovationsbereitschaft und -fähigkeit von Mitarbeitenden in Unternehmen mit einer starken Gleichstellungskultur, in der alle vorankommen und wachsen können, fast fünfmal höher als in Unternehmen mit deutlich geringerer Gleichstellung. Die Innovationskraft eines Unternehmens hing noch nie so stark von seiner Fähigkeit zur Diverstität ab wie heute. Wenn Menschen ein Zugehörigkeitsgefühl verspüren und von ihren Arbeitgebenden für ihre einzigartigen Beiträge, Perspektiven und Umstände geschätzt werden, sind sie eher bereit, voranzugehen und fühlen sich zu Innovationen befähigt.
Gibt es eigentlich Menschen, die irritiert reagieren, wenn sie zum Beispiel von einer jüngeren Frau mit Migrationshintergrund beraten werden?
Unsere Kunden wollen die besten Teams - und diese Teams sind aus den beschriebenen Gründen divers. Allerdings würde ich gerne die Frage anders beantworten, auch weil ich bisher nie in der dieser Situation gewesen bin. Ich würde dies auch als diskriminierend ansehen und aktiv ansprechen. Was wir allerdings bei unseren Kunden beobachten, ist eine zunehmende Sensibilisierung für das Thema. Wir werden auch gefragt, wie wir selbst das Thema Diversity & Inclusion angehen, da dies Teil der Partner-Entscheidung ist. Unsere Kunden haben klar das Bedürfnis entwickelt, dass Teams heutzutage divers sein müssen.
Zum Schluss eine persönliche Frage: Welche Arbeitswelt wünschen Sie sich für Ihre Töchter, wenn diese ins Berufsleben einsteigen?
Ich erhoffe mir eine gleichgestellte Arbeitswelt mit einem hoffentlich global einheitlichen Verständnis zur Entwicklung von Talenten. Inzwischen sind meine Töchter 11 und 13 Jahre alt. Ich möchte nicht, dass sie in ein paar Jahren einen Job womöglich nicht bekommen, weil sie Frauen sind. Wenn sie ihn nicht bekommen, weil sie schlechtere Noten haben oder weniger gut qualifiziert sind, wäre das etwas anderes. Wie schon gesagt: Toleranz ist der zentrale Begriff. Wir müssen offen sein und akzeptieren, dass wir nicht alle gleich sind. Aber wir müssen die gleichen Chancen für alle ermöglichen.