Inklusion ist ein Menschenrecht

Immer mehr Unternehmen entdecken das Thema Diversität. Menschen mit Behinderung profitieren davon aber bislang kaum. Wir haben mit Anne Gersdorff von der Berliner Initiative Sozialheld:innen darüber gesprochen, warum das so ist.

Viele Unternehmen haben inzwischen das Thema Diversity für sich entdeckt. Im Mittelpunkt stehen dabei oft Frauenkarrieren und Internationalität. Inklusion und Menschen mit Behinderung kommen dabei als Themen offenbar seltener vor. Stimmt dieser Eindruck?

Ja, das ist richtig.

Woran liegt das?

Zum einen daran, dass Behinderung in der Forschung um Diversity kaum eine Rolle spielt und wir deshalb dazu auch kaum Daten im Arbeitsmarkt haben. Viele große Studien, die sich mit Vielfalt beschäftigen, beachten die Dimension Behinderung erst gar nicht. So ist vielen Menschen gar nicht bewusst, dass Behinderung als Ungleichheitsdimension relevant ist.

Gleichzeitig sehen wir aber auch ein strukturelles Problem, denn in Deutschland lernen und arbeiten Menschen mit Behinderungen immer noch separiert in speziellen Einrichtungen wie Förderschulen oder Behindertenwerkstätten. Dabei hat Deutschland 2009 die UN-Behindertenrechtskonvention unterschrieben. Somit ist Inklusion – auch auf dem Arbeitsmarkt – ein Menschenrecht, das wir als Gesellschaft umsetzen müssen. Nicht umsonst heißt der Slogan der Behindertenbewegung „Nichts über uns, ohne uns“, den wir alle verinnerlichen sollten.

Doch auch für die Mehrheitsgesellschaft hat die Trennung Konsequenzen und die Folge sind Unsicherheit, Berührungsängste und Vorurteile gegenüber Menschen mit Behinderung. Die meisten Menschen wissen nicht einmal, wie sie Menschen mit Behinderung korrekt benennen können.

Durch die Corona-Krise stehen zahlreiche Firmen unter wirtschaftlichem Druck. Sie sind gezwungen, Mitarbeiter:innen in Kurzarbeit zu schicken oder sogar zu entlassen. Hat dies die Situation für Menschen mit Behinderung noch einmal verändert? 

Eine erste Studie zeigt, dass besonders Menschen mit Behinderung von den negativen Auswirkungen betroffen sind. Im letzten Jahr waren 13 Prozent mehr Menschen mit Behinderung arbeitslos als im Jahr davor. Damit hat die Inklusion im Bereich Arbeit einen herben Rückschritt erlebt, denn in den vergangenen Jahren entwickelte sich diese Tendenz eher positiv. Sind Menschen mit Behinderung erst einmal arbeitslos, so finden sie schwieriger einen neuen Job, als nicht behinderte Personen. Viele Menschen mit Behinderung arbeiten zudem in prekären Arbeitsverhältnissen und sind somit von der Strukturkrise und Kurzarbeit besonders betroffen. Viele Jobs, für die man keinen hohen Bildungsabschluss braucht, sind entweder in der Industrie oder im Gastgewerbe – beides Bereiche, die die Corona-Situation besonders zu spüren bekommen.

Wie wird es nach der Pandemie weitergehen?

Es ist aber auch davon auszugehen, dass Unternehmen aufgrund der wirtschaftlichen Situation in der nächsten Zeit nicht sehr experimentierfreudig sein werden und Menschen mit Behinderung anstellen. Dabei ist es gerade jetzt wichtig, um konkurrenzfähig zu bleiben. Zudem bringen Menschen mit Behinderung oft auch eine finanzielle Förderung mit, von der Unternehmen profitieren.

Viele Unternehmen zahlen derzeit lieber die so genannte Ausgleichsabgabe, anstatt die gesetzlich vorgeschriebene Anzahl von Stellen mit Menschen mit Behinderung zu besetzen. Warum ist das so?

Einer der vielen Gründe ist, dass viele Unternehmen nicht wissen, wie sie Bewerber:innen mit Behinderungen finden können. Wenn wir mit Unternehmen sprechen, hören wir oft: „Wir würden ja gern mehr Leute mit Behinderungen einstellen, aber die bewerben sich nicht bei uns.“ Wir ermutigen die Unternehmen, es nicht bei dieser Feststellung zu belassen, sondern sich lieber mit folgenden Fragen zu beschäftigen:

Erstens: Warum bewerben sich nicht genügend Menschen mit Behinderungen? Was können die Gründe dafür sein?

Zweitens: Sucht das Unternehmen aktiv und gezielt nach Menschen mit Behinderungen oder hört das Engagement bei einer Floskel in der Stellenausschreibung auf?

Drittens: Gibt es im Auswahlprozess Ausschlusskriterien, die Menschen mit Behinderungen benachteiligen, wie z.B. lange Fehlzeiten?

Viertens: Macht es sich das Unternehmen zur Pflicht, qualifizierte Bewerber:innen aus unterrepräsentierten Minderheiten zu einem Gespräch einzuladen, bevor nichtdiverse Kandidat:innen eingeladen werden?

Fünftens: Setzt sich das Unternehmen aktiv mit den unbewussten Vorurteilen und Berührungsängsten seiner Einstellenden auseinander?

Sechstens: Schafft das Unternehmen ein Klima, das alle einschließt?

Siebtens: Gibt es im Unternehmen Möglichkeiten, Diskriminierungen zu melden, ohne Angst vor negativen Folgen?

Beim Thema Frauen in Führungspositionen hat der Gesetzgeber kürzlich gehandelt. Sollte er das nicht auch bei Thema Inklusion und Ausgleichsabgabe tun?

Ja, das sollte der Gesetzgeber unbedingt tun. Am 3. Dezember 2020 hat der Bundesminister für Arbeit und Soziales, Hubertus Heil, zum Tag der Menschen mit Behinderung noch verkündet, dass die Ausgleichsabgabe verdoppelt wird. Die Freude war groß, doch mittlerweile ist die Bundesregierung wieder zurückgerudert und hat dieses Vorhaben auf unbestimmte Zeit verschoben. Stattdessen stecken wir weiterhin Geld in ein separierendes System von Behindertenwerkstätten.

Wie steht es eurer Erfahrung nach um das Thema Barrierefreiheit in deutschen Firmen?

Um die Barrierefreiheit in deutschen Firmen ist es sehr unterschiedlich bestellt. Insbesondere große internationale Unternehmen erkennen den Mehrwert von Barrierefreiheit. Denn nicht nur Menschen mit Behinderung profitieren von einer barrierefreien Umgebung, sondern alle Mitarbeiter:innen. Ein rückengerechter Arbeitsplatz ist nicht nur für Menschen gut, die ich schon Probleme mit der Bandscheibe haben, sondern wirkt auch präventiv, um gar nicht erst welche zu bekommen. Gleichzeitig schadet es niemanden, wenn es einen Aufzug gibt oder eine Rampe. Eher das Gegenteil ist der Fall, da auch Mitarbeiter:innen, die kurzfristig z.B. ein Gipsbein haben, zur Arbeit kommen können. Da ein Großteil der Behinderungen erst im Laufe des Lebens erworben wird, können viele qualifizierte Mitarbeiter:innen bei einem barrierefreien Arbeitsplatz diesen behalten und gehen dem Unternehmen in diesem Fall nicht verloren. Der Fokus liegt dabei aber vor allem auf baulichen Barrieren. Das aber unter Umständen auch Licht und Akustik sowie Software und kommunikative Strukturen zu einer barrierefreien Umgebung gehören, wird dabei oft vergessen.

Kleinere Unternehmen hingegen sind oft baulich nicht barrierefrei. Dafür tun sie sich leichter, Arbeitsprozesse und Arbeitsaufgaben anzupassen und Menschen mit Behinderung individueller zu unterstützen.

Wie steht die deutsche Wirtschaft beim Thema Inklusion im internationalen Vergleich da? 

Im internationalen Vergleich steht die deutsche Wirtschaft eher schlecht da. Nach wie vor halten wir an einem separierenden System fest und setzen auf die Produktion in Behindertenwerkstätten. Weil der Arbeitsmarkt für Menschen mit Behinderungen nicht offen ist, viele nicht selbst ihren Lebensunterhalt verdienen können und es zu wenig inklusive Angebote für Menschen mit Behinderungen gibt, bekommt Deutschland regelmäßig Kritik von der UN. Es gibt seit ein paar Jahren einige vielversprechende Maßnahmen, doch kennt diese kaum jemand und somit gab es auch wenig Veränderungen. Andere Länder sind da viel weiter als wir. So gibt es in Skandinavien und auch in Teilen der USA z.B. gar keine Behindertenwerkstätten. Auch in Großbritannien ist das System weitaus inklusiver als in Deutschland, jedoch gibt es dort wiederum kaum Unterstützung für Menschen mit Behinderung.

Was wünscht du dir für die Zukunft?

Ich wünsche mir, dass Behinderung genauso als Vielfaltsdimension mitgedacht wird. Behinderungen müssen eine größere Relevanz in all dem bekommen. Dafür sollten wir alles tun.

Bildnachweis Titelbild: Andi Weiland | www.gesellschaftsbilder.de

Mehr Insights